Eine Reise ins Licht - Wegspuren zur Landschaftskunst von Rudolph Distler

 
   
Was zuerst ergreift, ist die Magie des leeren Raumes: Flächenweite, bilderfüllende Schneefelder, die den Malprozess in eine Variationenfolge über das Thema Weiß verwandeln. Endlose, zumeist verhangene Himmel. Irisierende Wasserspiegel. Abendfärbungen als Timbrestudien zum Übergang vom Purpur hin zum Blau. Malereien, die zuweilen eher Barnett Newmans monochromen Flächen und den Farbräumen Mark Rothkos gleichen als den Stereotypen traditioneller Landschaftskunst. Manch einem dieser Aquarelle möchte man den Titel geben: "Who's afraid of White, Azure and Grey?".

Wären da nicht jene schmalen, aber ungeheuerlich präsenten visuellen Brücken. Jene Zwischenfelder im Grenzraum streng gegliederter Horizontalen - Zonen, in die mit der Überdeutlichkeit des Traumes eine unerhörte, so noch nie gezeigte Landschaft einbricht: Hügelketten und verschneite Berge, halb noch überdeckt und ausgelöscht von Nebelwänden. Schemen eigentlich. Aber zugleich so klar, dass wir noch jedes Gehöft und jeden Baum des Samerberges zu erkennen meinen.

Bilder aus dem Chiemgau? Nein, nichts wäre falscher. Denn gewiss sind dem Detail, sind Blatt und Nadelwerk selbst der entferntesten Bäume, sind den Maserungen im gebleichten Holz eines Stadels, sind der Grasnabe der Wiesen malerische Monumente einer äußersten Genauigkeit gewidmet. Und gewiss sind diese Aquarelle ganz und gar durchdrungen von der sanften Rhythmik der Chiemgauer Landschaft. Doch sie sind nicht deren Abbild. Das vermeintliche Fotografische erweist sich als Augentrug. Die Bilder zeigen nicht die Wirklichkeit des Augenblicks. Sie sind streng konstruktiv: erwogene, entwickelte Erfindungen des Ateliers und der Ästhetik; Formvisionen, denen die altbayerische Voralpen-Wirklichkeit allein die Muster ihres Mantels lieh.

Denn wären sie nur Landschaft - ihre Themen würden sich sehr rasch erschöpfen: Wiesen, Berge, Himmel, Wasserflächen und Gehöfte. Doch sie sind Versuchsanordnungen für reine Malerei, präzise Variationen über Räume und Farbharmonien, die sich gleichsam im kleinstmöglichen Zitat der Wirklichkeit als Landschaft zu erkennen geben: frei von jedem Hauch des Genrehaften, ganz allein sie selbst in strenger Absolutheit. Wohl entwickeln diese Farbräume sich ihre Themen, ihrer Rhythmik "nach der Natur". Und dennoch ist ihr vermeintlicher Hyperrealismus in Wahrheit dessen radikalste Abstraktion. Es geht - wenn auch mit singulärer Delikatesse und Differenzierung - um die magische Monochromie der Ebenen, denen apercuhaft ein paar Striche den Schein äußerster Bedeutung und auch Wirklichkeit verleihen: Maisstoppeln, Zaunpfähle, ein im Hintergrund entgrenzter Waldsaum. Mehr braucht diese Meisterkunst sinnstiftender Details nicht, um uns in den Raum ihrer Ideen hineinzuziehen. Und erst der Moment des Kippens, der vermeintlich überscharf vortretenden Gewissheit im ganz Ungewissen, der gerade noch nicht stürzenden Balance gibt den Gemälden ihren Zauber und die Sogkraft ihrer Doppeldeutigkeit.

So schafft Rudolph Distler malend unsere und seine Welt.
Die Bilder mögen darin "zeitlos", auch romantisch scheinen. Und sie haben deshalb immer wieder die Erinnerung an Caspar David Friedrichs "weiten Blick" heraufbeschworen. Doch auch dieser Vergleich beruht auf einem produktiven Missverständnis. Denn so, wie die Bilder Friedrichs fast schon zu exakt die Traum- und Stimmungslage - nicht die Realität! - ihrer Epoche einfingen (und gerade deshalb die Entrüstung ihrer Zeitgenossenschaft auf sich lenkten), so sind Distlers Bilder - ungewollt, doch unausweichlich - Reflexionen über seine Zeit und Welt: die Zeit der 1990er hin zur Jahrtausendwende und fortschreitend bis in unsere Gegenwart.

Es steht außer Frage, dass den früheren Arbeiten das Melos des "Zum letzten Mal" bewegend eingeschrieben ist. Es sind in diesem Sinn durchaus politische Bilder: Abend-Reflexionen, denen die Verstörung und die Resignation am Ende des Jahrhunderts und am Ende seiner Ökologiebewegung abzulesen ist. Winterbilder, die den Panzer der Erstarrung und den grauenden Verfall des Nebels über Wiesen, Stadel, See und Wäldern legen. Es gab eine Zeit, in denen Distlers Bilder in der Kälte dieser "nuages gris" fast zu ersticken drohten. Eine Phase, die im Betrachter durchaus Sorge keimen ließ, ob hier ein Künstler seine Arbeiten nicht absichtsvoll "totmale", ihnen alle Bewegtheit, alles innere Leben austrieb.

Aber die Bildstarre erwies sich am Ende als Verpuppung. Seit 2000 schmilzt in Distlers Kunst der Schnee und bricht ein - manchmal gleißend helles - Morgenlicht in seine Malerei. Ein Licht, das Eisreste und Hausfassaden, Sonnenflecke und die Westwerke von Kirchen wie gestanzte Leerstellen aus der umgebenden Landschaft schneidet, das noch zarte Grün der jungen Wiesen gellen macht und rote Eternitdächer fast schon makaber brennen lässt.

Gewiss ist diese Erhellung längst kein Licht des schieren Wohlgefallens, so wenig die Dämmerung der früheren Bilder pure Idylle war. Im Sonnenglast der neuen Blätter flammen auch die Feuer unseres neuen Säkulums, das Kerosin des 11. September und das TNT des brennenden Bagdad mit. Nur äußert das Bewusstsein der Verletzbarkeit sich hier niemals direkt, nie plakativ ausdrücklich. Sondern einzig als subtile Änderung der Weltwahrnehmung selbst. Als Teil eines Prozesses, an dem noch die unscheinbarsten Chiemgau-Szenerien nolens volens Anteil nehmen.

Und trotzdem sind diese Änderungen des Bild-"Klimas" wiederum ausschließlich Kunst-Entscheidungen, Etappen eines variativen Malprozesses.
Wenn man Distlers OEuvre der vergangenen zwanzig Jahre sichten wollte, könnte man es subsumieren unter wenige, motivisch klar getrennte Reihen: Seebilder mit ihren symmetrisch linearen Farbenwechseln von Wasser, Land und Himmel. Waldhänge als Übergänge von scharf kontrastierten Vegetationen. Häusergruppen als streng geometrische gegliederte, verschachtelte Bereiche in einem sonst nach allen Seiten unbegrenzten, offenen Bildraum.
Die Benennung dieser Kategorien aber macht uns zugleich klar: Es kann hier nicht um die Individualität eines bestimmten "schönen Blickes", einer singulären "Ansicht" gehen. Sondern es geht um Reihenbildung. Um Versuchsanordnungen, denen allein kraft der Gestaltung, durch den Malprozess die Einzigartigkeit des Kunstwerks zuwächst. Manchmal variiert Distler deshalb Jahreszeiten und Lichtwirkungen in einem sonst identischen Motiv. Oder er führt einen spezifischen Ausblick, ein umfassendes Panorama über mehrere Bilder fort. So nämlich bleibt das Grundverhältnis zwischen Farbe, Stimmung, Raumaufteilung fast identisch; nur der Rhythmus, die Gewichtung dieser Größen ändert sich.

Man kennt solche prozessualen Arbeitsweisen sonst eher aus der Konzeptkunst. Im Zusammenhang von Landschafts-Realismus müssen sie höchst ungewöhnlich, ja befremdlich scheinen. Es sei denn, der Realismus selber ginge hier ganz neue, radikal konzeptionelle Wege.

Eine Änderung der Perspektive: Rudolph Distlers Werdegang mag dem Betrachter ähnlich panoramenhaft kontinuierlich, fast schon linear anmuten wie sein Malwerk. Anfangs ein maßvoller, Surreales nur am Rand tangierender magischer Realismus. Dann ein Landschaftsstil, in welchem die Gelassenheit des Chiemgau-Hügellands sich selbst genügt. Ein Stil, der Abendlicht und Vollmondleuchten, Tageshelligkeit und Morgengleißen in Etappen über drei Jahrzehnte ruhig erschloss: ein überschaubar schlankes Œuvre.

Doch man könnte es auch anders sehen. Als Abfolge von durchaus brüchigen und divergierenden Entwicklungen. Als einen Versuch, grundsätzliche Veränderungen des Kunstwollens vor dem Anprall der Beliebigkeit zu bewahren, indem sie - ein hilfreicher Zwang - im nämlichen Sujet geerdet blieben.
Entwicklungsbrüche aber sind nicht denkbar ohne einen Stimulus von außen. Eben deshalb bleibt es unzulässig, über Distlers Kunst zu spekulieren ohne das Bewusstsein seiner Arbeit als Kurator. Der inzwischen vierzehnjährige Betrieb der Galerie zu Hohenaschau sagt deshalb über seine Intentionen, seine Kunstabsicht ebensoviel wie sein persönliches Schaffen. Auch wenn die Berufung durch den Förderverein "Kunst und Kultur" im Rückblick eher eine stattliche, fast schon erheiternde Fehleinschätzung bleibt . Denn 1991 ging es den Initiatoren vor allem darum, einen "Konservativen" als Gestalter zu gewinnen. Einen Künstler, dessen Stil zuordenbar erschien, von dem die Misshelligkeit unziemlicher Modernismen mithin auch bei der Bewertung fremder Arbeiten nicht zu erwarten stand.

Distler enttäuschte diese Erwartung von der ersten Stunde an. Sein Ausstellungskonzept blieb zwar der Leitidee eines Kunstforums internationaler Realisten treu. Aber es missdeutete diesen Begriff nie als Begrenzung. Es vereinte unter seinem weiten Dach die Wiener Phantastik von Ernst Fuchs mit dem erotisch gewitzten Art deco Kurt Welthers ebenso wie den Elan des "wilden" Berliner Mauermalers Kiddy Citny; die sperrigen Graffitti Arthur Reutters wie den wuchtigen Expressionismus Max Kaminskys. Die chiffrenhafte Eleganz und Strenge des Spaniers Antonio Villanueva, wie die ironische Balance japanisch-europäischer Traditionen in den Akten Masa Kawases.
Ebenso wie die versponnene Sakralität des Bulgaren Nikolai Karamfilov.

Zwar gab es dabei immer wieder Themenzentren, Stilschwerpunkte. Eine Ausstellungsserie widmete sich dem Umkreis des Realisten, Graphikers und Lehrers Malte Sartorius; eine andere der "Berliner Schule" junger Realisten aus der Hauptstadt-Szene. Vor allem aber orientierte Rudolph Distlers Kuratoren-Tätigkeit sich an dem Werk, der Wirkung und Ausstrahlung von Klaus Fußmann als einem der Großen der deutschen Nach-Moderne; einem überragend freien, souveränen Maler; und noch mehr einem uneitel wissenden, nie doktrinären Lehrer, der die Kraft aufbrachte, seinen Schülern keinen Stil, sondern den Furor, die Begeisterung des Malens, zu vermitteln.

Distler gelang mit diesem Ausstellungsprinzip zwar Kontinuität; doch ohne Erstarrung. Eine sich wandelnde, doch nie beliebige Stil-Sicherheit, welche den Namen Aschau heute zu den leuchtenden der europäischen Kunstszene macht. Das aber konnte nur gelingen, weil er "seine" Galerie niemals als bloßes rezeptives Medium, als passive Ausstellungsfläche empfand. Es war und blieb seine Eigenart, nicht einfach Werke zu zeigen, sondern Werke zu provozieren. Er gab Anlass und Anregung, dass die eingeladenen Künstler ganze Zyklen "vor Ort" erstellten, dass sich damit eigene Stilphasen im Œuvre hochberühmter Größen an den Namen Aschau knüpfen. Man denke an den unverhofften Einbruch der Landschaftsmalerei in das Schaffen des magischen Realisten Kurt Regscheck, an die "Aschauer Phase" bei Thomas Kaemmerer und Philipp Mager oder an Friedel Andersons schweigsam-poetische "Stills" aus der alten Hohen-aschauer Brauerei. Ein entsprechender Rückschluss mag mithin erlaubt sein. Wo so viel aktiv gestaltet wurde; wo die Energie und die Präsenz des Machers so viel Unverhofftes provozierte. Konnte da der Macher selber unverändert bleiben?

Distlers Bilder sind in diesem Sinn auch in sich selbst Aufbrüche und Entdeckungsreisen: Horizont-Erweiterungen, die ihren Urheber notwendig vor der Enge und der Selbstgerechtigkeit eines abseits der Welt geübten Personalstils bewahrten.
Und ein weiterer, entscheidender Einfluss will erwogen sein. Die Bilder Distlers sind die Bilder eines Musikers. Die Äußerungen eines Künstlers, der sehr lange zwischen den Verzweigungen seiner Begabung schwankte. Der in jungen Tagen fast ein halbes Jahrzehnt mit eigenem Ensemble erfolgreich zwischen Kiel und Amalfi tourte. Dessen musischem Freundeskreis unter anderem ein Peter Michael Hamel - heute einer der renommiertesten Komponisten Deutschlands - und der Kabarettist und Essayist Christoph Stählin angehörten.

Es war die schicksalhafte Banalität eines Unfalls, die Distler einen Finger kostete und seine Doppel-Karriere so zugunsten der Malerei entschied. Die Musik jedoch blieb unverändert in seinen Bildern gegenwärtig. Man begreift die Aquarelle schlechthin nicht, wenn man nicht Clara Haskils luzides Beethoven- und Schumannspiel, die schwerelose Eleganz der Opern Donizettis und Bellinis und die Intimität der Lieder Schuberts mithört, die den Malvorgang begleiten. Nicht als Hintergrund-Geräusch, sondern als hochkonzentrierter Akt des Hörens und des Übersetzens, als Verwandlung des vollkommenen Klangs in Malerei.

Dies rundweg musikalische Streben nach Ton-Reinheit, nach der größtmöglichen Vollkommenheit der Ligaturen und der Übergänge, nach harmonischer Erfüllung des Details musste - gerade in den Moden eruptiver Malerei der achtziger sowie dem Kunstdiktat des Fotografischen während der neunziger Jahre - als etwas tief Unzeitgemäßes, auch, gemessen am Ausbildungsstandard, wie die meisten Akademien ihn damals vermittelten, als etwas tief Absurdes und Unzünftiges, kurz: Dilettantisches erscheinen.

Ein zunächst nicht a priori abweisbarer Einwand. Rudolph Distler erwarb sein Handwerk nämlich tatsächlich als Autodidakt. Erst als er sich in dem, was er von seiner Kunst erwartete, vollkommen sicher war, ging er den Weg des Fachmanns und schrieb sich bei Rudolph Hausner an der Wiener Akademie ein. Der jedoch wies ihn als Schüler ab, da sei nichts mehr zu lehren. So blieb er als Hospitant. Bis klar war, dass von Hausner wirklich nichts zu lernen blieb. Dass dessen überpointierter, grell phantastischer Realismus für die Intentionen Distlers in die falsche Richtung wies.

Gewiss hatte auch er im Zeitgefühl der späten Sechziger als "magischer" Realist begonnen. Gewiss waren die Chiffren jenes Stils - die anthropomorphe Landschaft, die punktuelle Durchdringung und Aufhebung eines ansonsten definierten Raumgefüges - zu Anfang auch in seiner Arbeit gegenwärtig. Und gewiss gab es, vor allem in der "Mara"-Serie, auch einen Anhauch jener weichgezeichneten, ein wenig elfenhaften Erotik, wie sie in der Zeit des "Twen" und David Hamiltons die Ästhetik des Genres prägte. Auch ein mehrjähriger Aufenthalt in Italien gab Distlers Stil zunächst eine fast überhelle, farbige Koloristik.

Sein tatsächlicher, ureigener Weg entschied sich erst, als Distler sich mit seiner Familie 1978 im Chiemgau niederließ - zuerst in Leitenberg bei Frasdorf, dann in Aschau. Als er in der Landschaft zwischen Samerberg, Chiemsee und Priental die Grundformen seines Malens fand und anerkannte.
Als gelernter Lithograph (ein Handwerk, das bereits sein Großvater in einem Dorf bei Ulm ausübte) fand er zunächst die Druckgraphik als sein gegebenes Arbeitsfeld. Verbunden allerdings mit dem verwegenen Ehrgeiz, die bewährten Techniken der Farbradierung gleichsam neu zu definieren; die Begrenzungen der additiven Monochromie zu sprengen; Druck und Aquarell in bislang ungekannter Weise einander anzunähern.

Das Ergebnis waren Blätter, deren technisch-künstlerischer Aufwand jedes gewohnte Maß überstieg. Anstelle der sonst üblichen Überlagerung zweier oder dreier Druckplatten gab es Schichtungen von vier, fünf oder gar sechs Aquatinta-Ätzungen, die nun hochkomplexe, fließend homogene Übergänge möglich machten, wie sie bislang allein der Malerei vorbehalten waren. Wobei Distlers Kunst gerade darin lag, im Druck nicht die Palette des methodisch verwandten Offset-Drucks in summa auszuschöpfen, sondern extrem reduzierte Skalen - etwa die der Abendfarben - abzugrenzen, welche den Bildresultaten ein unwirkliches Irisieren zwischen nächstverwandten, dennoch deutlich unterschiedenen Tönen gaben und der Darstellung zugleich alles Auftrumpfende der bloßen technischen Demonstration benahmen.

Diese Radierungen, deren erste Folgen zwischen 1979 und 1985 erschienen, waren - ohne dass dies intendiert war - für die Kunstszene ein Schock, ein klaffender Tabubruch. In einer Zeit, in der Spontaneität und erdige Kraft, der eruptive Augenblick, der sichtbare Materialcharakter alles galten, musste Distlers Übersorgfalt, sein monatelanges Hinarbeiten an einer einzigen Graphik, seine demonstrative Überwindung materieller Grenzen, seine Transzendierung der Materie als schiere Provokation erscheinen (entsprechend wütend war damals die Reaktion, die wiederum ihn als Reaktionär und Kunstverderber geißelte).

Aber die Zeiten wechseln. Zwanzig Jahre später ist ein spielerisch genutzter, virtuoser Realismus fast schon das Signet von junger Kunst. Vor allem in Berlin und Leipzig leben und schaffen Maler im Dutzend, welche ihre Arbeit ohne Anwandlung geringster Berührungsängste als schiere Revelation des übergenauen Details begreifen.
In diesem Umfeld jedoch erscheint Distlers Kunst jählings als Avantgarde. Nicht zuletzt, weil sie ein Höchstmaß malerischer Präzision und Koloristik mit größtmöglicher Offenheit und kompositioneller Reduktion verbindet. Während viele aus der Generation der heute Dreißigjährigen das Maß ihrer Qualifikation beweisen, indem sie den Bildraum bis zum Brechen überfüllen, indem Sie die Schrotthalde zum Spielplatz ihrer Virtuosität erklären, wurden Distlers Bilder bis zur äußersten Grenze leer.

Sie schaffen damit den Spagat, die Eigentlichkeit der klassischen Moderne mit der Uneigentlichkeit der Postmoderne zu versöhnen und somit beiden eine Strebung in die Zukunft mitzuteilen. Zugleich aber definieren sie so den Begriff des Realismus neu. Sie öffnen Tore hin zu einer schrankenlosen Offenheit der Möglichkeiten, denen allein die Disziplin der Kunst die Schranke setzt.

Im jüngsten Bild von Rudolph Distler ist die Offenheit unendlicher Perspektiven, die Reise ins Licht unbegrenzter Möglichkeiten selbst zum Bild geworden. Wir sehen zunächst schlicht die Traktor-Durchfahrt eines Bauernhauses. Erst die Helligkeit des vorgelagerten Hofes. Sodann links und rechts zwei hölzerne Tore in ihrer eisernen Schiene. Dann einen gegen die Wand geschichteten Brennholzstoß. Dann eben diese Wand. Dahinter einen Strebebalken. Dann die bräunlich schwarze Höhle des Hausinneren. Sodann ein zweites, gegenüberliegendes Tor. Und dann in überhellem Licht die Wiese jenseits des Hauses. Hinter ihr die Hecke und den Wald. Dahinter endlich denken wir den Himmel.

Zunächst ist es nur ein ländliches Genrebild. Doch Distlers ganzes Leben, seine ganze Malerei vom Licht ins Dunkel und zurück ins Licht, ist ihm schrittweise eingeschrieben. Seine Kunst, das anekdotisch Unscheinbare zur Metapher reiner Bildwahrheit zu übersteigern. Und seine Bescheidenheit, das Absolute dennoch im Alltäglichen zu erden.

Klaus Jörg Schönmetzler

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