Ein Tag im Atelier
Das Bild, das Aquarell, soll im Vordergrund noch die blaue
Dunkelheit der Nacht zeigen, aber höher und weiter in der
Distanz, wo sich die Landschaft mit Bäumen und Hügeln
abhebt, zeichnet der klare Morgen - noch ohne Sonne - den frühen
Tag. Die saubere Luft konturiert deutlich das Gras, die Zweige
der Sträucher, die Wege und die Steine. Dahinter, weit
in der Ferne, das voralpine Gebirge; schon ganz von der Morgensonne
beschienen, zieht es einen kupfergelben Streifen durch das Bild.
Dort oben, dort hinten so weit, hat der junge Tag begonnen,
liegt die Erde im neuen Licht, während wir noch in der
Dämmerung weilen. Fast genau in der Mitte des Bildes teilt
die Bergkette die Nacht endgültig zum Tag, lässt im
darüber steigenden Himmel nur noch Helligkeit zu. Wir aber
stehen mit dem Maler unten im Bilde, im Wiesengrund, in unentschlossener
Bläue, die allenfalls ein paar Konturen ahnen lässt;
haben unsichtbar eine Position im Vordergrund des Bildes, wo
aus sauren Wiesen Nebel steigt.
Die Tag- und Nachtgleiche wird bald vorbei sein und der Maler
müsste sich, wenn er das Bild vor Ort ganz fertig malen
wollte, sehr beeilen. Doch eine Skizze genügt vorerst,
die eigentliche Malerei wird für ihn erst im Atelier beginnen.
Daheim wird er sich der vertrackten Aufgabe stellen, die letzte
Dämmerung der Nacht zu malen, das Kobalt des Tales langsam
aufhellen, in die grünen Wiesen übergehen lassen,
um darüber den strahlenden Morgen im fernen Gebirge zu
feiern.
Rudolph Distler wird sich mit dieser Aufgabe schwer tun, wird
endlose Stunden vor dem Aquarell grübeln, wird vorsichtig
umschichten, das Blau verstärken und wieder zurücknehmen,
die leichten Übergänge von der Nacht zum Tag glätten.
Er wird vorsichtig zu Werke gehen, wird auf der Hut sein und
unsichtbar bleiben, wird das Motiv, die ganze Situation und
die Lichtverhältnisse, sich noch mal und noch mal vor Augen
führen, die Vorstellung mit dem Bild vergleichen und es
schließlich zögernd für fertig erklären
- und doch immer noch einmal darüber nachdenken. Wie's
in der Natur sich in einer Stunde vollzieht, was sich dort als
schwebender Zustand vielleicht ganze zehn Minuten hält,
dafür wird er im Atelier Monate brauchen, um es zu bannen.
Der Maler Rudolph Distler ist ein fanatischer Realist. Niemals
würde er auf seinen Bildern eine "undeklinierte"
Stelle dulden, die Wiesen werden "durchdekliniert",
das heißt, fast jeder Halm wird gemalt-unterschiedlich-,
die Wellen im Boden sind zu sehen und die Grünfärbung
des Grases verschiebt sich stellenweise. Nichts ist hier Zufall.
Das feine Geäst der Bäume wurde mit feinstem Pinsel
gezogen, durchwebt mit dem Grau des Hintergrundes, und jeder
Zweig unterscheidet sich durchaus, ist verschieden von Hasel-
oder Erlenbüschen. Die in der Ferne noch genauen Details
bestimmen die Distanzen, sie sind dann mikroskopisch klein,
aber nicht vernachlässigt, gehen nicht in Impressionismus
unter, sondern bleiben Zaunpfahl, Strauch, Hauswand, Dach, Fenster.
Alles in seiner Welt ist real, ist dinglich-genau und anschaulich.
Selbst der im Weiß gebrochene Schnee eines in der Dämmerung
übergehenden Winternachmittags hat genau den Anflug von
Grau, den wir an solch einem Tag in der Natur vor einer Schneelandschaft
wahrnehmen würden. Die Phänomene der Jahreszeiten
und selbst die des Wetters werden in seiner Kunst Realität:
Luft, Wasser, Nebel, das Abendrot, offener Himmel und die Erde
der Felder; Schneefelder im Frühjahr, der Morgen und der
Abend verdichten sich auf seinen Bildern zu Realität. Wenn
es gemalt ist, verändert sich nichts mehr, endgültig
erstarrt die Schneeschmelze. Für immer steht das bäuerliche
Gerätehaus mit dem Wirtschaftswagen in der Einfahrt in
der überhellen Sommersonne. Irgendwas ist anders auf dem
Aquarell mit den Hofgebäuden: An diesem Tag hat es eine
Temperatur von 38 Grad gehabt und wenn man das weiß, sieht
man es auch. Seine Kunst kann sogar übergroße Mittagshitze
noch darstellen, gerät aber hier an ihre Grenzen. Denn
auf den ersten Blick erkennt der Beschauer die Außerordentlichkeit
des Tages noch nicht, sieht sie erst - glaubt sie zu sehen -
nach einem Hinweis. Es kann auch gar nicht anders sein.
Genau hier beginnen für Rudolph Distler die Grenzen seiner
Kunst und genau hier beginnen seine Selbstzweifel. Die Vollendung
der Kunst wäre die totale, endgültige und objektive
Wiedergabe der Wirklichkeit, mit Stimmungen der Atmosphäre,
allen Details der Bäume, Berechnungen des Lichts, Nuancen
von Farbverschiebungen, perspektivischen Verkürzungen.
Vieles, was zunächst als völlig illusorisch erschien,
hat er gemeistert, ohne Selbstüberschätzung kann er
auf eine Reihe Meisterwerke zurückblicken, bei denen es
ihm immer wieder glückte, einen außergewöhnlichen
Moment in einer unspektakulären Landschaft zu malen, zu
realisieren. Bei aller Genugtuung, vielleicht sogar manchmal
Stolz darüber, bleibt ihm doch bei einigen Blättern
ein Rest von Zweifel, ob es ihm da wirklich gelang, die Wärme
des Tages oder die Kälte des Winters darzustellen. Immer
wieder sinnt er seinen Bildern nach, verliert in seinen monatelangen
Arbeitprozessen seine Zuversicht, sitzt tagelang vor fast fertigen
Bildern und wagt sich nicht richtig weiter, schichtet ganze
Partien um, malt Waldstücke neu und nähert sich doch
langsam, aber auf Umwegen seinem Ziel.
Was am Ende gerahmt vor uns steht, ist einmalig, nicht wiederholbar
und mit keinem anderen Maler in Deutschland vergleichbar. Eine
Voralpenlandschaft im Frühjahr wurde zu einem narrativen
Ereignis, dunkles Gebüsch wechselt mit zufällig gelagerten
Schneeflächen auf grünen Wiesen; eine Ansicht des
Motivs versetzt den Anschauenden noch nicht in Emphase, doch
auf dem Bilde verdichtet sich die nasse Wiese mit Schnee und
Büschen zu einem faszinierenden Rätsel. Die Malerei
hat sie wichtig und schwer gemacht.
Der Grund dieser Einzigartigkeit aber liegt in den vielen Skrupeln,
mit denen die Bilder gemalt wurden. Die Tiefe der Kunst kommt
aus dem Zweifel des Malers, seine vermeintliche Schwäche
ist seine Stärke. Niemals könnte ein Draufgänger
solche Bilder malen, kein einziger Ast würde ihm gelingen.
Das Unnachahmliche liegt auch in der Zeit, mit der es entstand.
Die Zeit ist in Distler Werken eingefroren, pure Zeit ist ein
Faktor seiner Kunst. Was zunächst so überflüssig
erscheint, das vorsichtige Herantasten, das ferne Ziel dem er
sich so prüfend und wieder und wieder sichernd naht, die
Stunden der Betrachtung, die Erwägung, die Korrekturen
im kleinen, sie waren weder vergeblich noch unnötig. Nur
so konnten seine Bilder entstehen.
Heutzutage sind wir von selbstbewussten, zum Teil lärmenden
Malern umgeben. Viele malen nicht mehr, sondern erstellen Gegenstände,
deklarieren sie zu Kunst. Rudolph Distler repräsentiert
genau das Gegenteil, ihn kann keiner vom Pfade der Malerei abbringen,
unbeirrbar geht er seinen Weg. Der gegenständlichen Malerei
gibt Rudolph Distler den Vorzug, von ihr ist er besessen und
sie füllt ihn ganz aus. Das heißt aber nicht, dass
er im Abstrakten oder Informellen Qualität nicht erkennt,
sein Urteil ist auch hier ganz kompetent und tolerant, und er
ist nicht zu täuschen, Sofort fällt ihm eine Schwäche
in der Komposition auf, ein alberner Pinselzug, eine ratlos
gefüllte Stelle. Leere Emphase sieht er unweigerlich. Die
Wiener Akademie hat ihn geprägt und als er die Akademie
besuchte, stand die Wiener Schule auf der Höhe ihres Ruhmes.
Heute steht er dieser Zeit eher skeptisch gegenüber, sieht
längst die Schwächen der Phantastischen Realisten.
Distler kann und will aber seine Wurzeln nicht verleugnen, hält
am grundlegend richtigen Handwerk fest, das er damals gelernt
hat. Baut seine Bilder altmeisterlich, wie die Wiener es ebenso
taten, geht dann aber, dank seiner Zweifel, über die leichte
Welt der Phantasie hinaus.
Der Maler ist durchaus kein Kind von Traurigkeit. Wer ihn draußen
in der Öffentlichkeit kennenlernt, kommt unter Umständen
nicht darauf, einen bildenden Künstler vor sich zu haben.
Interessiert und kenntnisreich nimmt er am Geschehen der Welt
teil, spielt Gitarre, singt italienische Lieder und ist auch
mal einem Kartenspiel nicht abgeneigt: Rudolph Distler kennt
die Welt gut, blickt auf ein ziemlich abenteuerliches Leben
zurück. Die meiste Zeit verbringt er jetzt aber vor seinen
Bildern, sie nehmen ihm fast den ganzen Tag, lehren ihn bescheiden
zu sein, sind sein Stachel, sein Mysterium und sein Geheimnis.
Er ahnt, dass er mit der Malerei noch längst nicht am Ende
ist.
Klaus Fußmann
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